Sonntag, 20. Dezember 2015

Medizin in einer anderen Welt

Das St. Luke’s Mission Hospital in Mpanshya ist ein Landspital mit ca. 100 Betten, welches eine ziemlich breite Versorgung bietet mit einem Ambulatorium, einem Gebärsaal und einer pädiatrischen, medizinischen, chirurgischen und gynäkologischen Abteilung.
Das Spital hat einen Operationssaal, ein Labor, ein Röntgengerät und sogar ein Ultraschallgerät für die Gynäkologie und Geburtshilfe.


Das klingt eigentlich gar nicht schlecht, doch es gibt ein paar grosse ABER. Zum einen bereiten die Strom- und Wasserversorgung grosse Probleme. Da es in Mpanshya keinen Stromanschluss gibt, muss für das Röntgengerät und den Operationssaal jeweils ein Generator angeworfen werden, sodass Röntgen jeweils nur am Morgen durchgeführt werden können und selten notfallmässig am Nachmittag oder am Wochenende. Zudem war das Röntgengerät wegen einem Defekt in den letzten 4 Monaten ausser Betrieb. Und es ist nicht ungewöhnlich, dass der Strom während den Operationen ausfällt und man so ohne Licht und ohne Anästhesieturm bei einer Raumtemperatur von 35°C weiteroperieren muss. Da in der Trockenzeit das Wasser knapp wird, gab es in den letzten Wochen auch kein fliessend Wasser im Spital. Und weil es auch kein Handdesinfektionsmittel gibt, erübrigt sich gezwungenermassen die Händehygiene zwischen den Patientenkontakten (Hygienevorschriften in der Schweiz schreiben Händedesinfektion nach jedem Patientenkontakt vor).
Labor

Röntgengerät
Operationssaal
Typisch sambisch: erfinderisch muss an sein, um Dinge am Laufen zu behalten
Das Labor ist nur wenige Stunden pro Tag an Werktagen geöffnet, sodass keine notfallmässigen Laboranalysen möglich sind. Bestimmt werden kann ein Blutbild (kein Differentialblutbild), zwei Leberwerte und einen Nierenwert, doch keine Elektrolyte, keine Blutgerinnung und kein Entzündungswert. Am Mikroskop können Blutausstriche auf Malaria und Trypanosoma (durch die Tsetsefliege übertragener Erreger der afrikanischen Schlafkrankheit) überprüft werden und es gibt die Möglichkeit eines Syphilis- und HIV-Test inklusiv CD4-Count.
Mit eines der grössten Probleme des Spitals ist die Versorgung mit Material und Medikamenten. Da das Spital ein Missionsspital ist und von katholischen Nonnen geleitet wird, kommt ein Teil des Geldes zur Finanzierung aus einem kirchlichen Fonds, andererseits bezahlt der Staat die Löhne und liefert die Medikamente. Doch da der Staat pleite ist, werden seit Monaten immer weniger Medikamente geliefert, sodass viele Medikamente die ganze Zeit „out-of-stock“ sind.  Zur Schmerzbehandlung gibt es eigentlich Paracetamol und Ibuprofen, aber da Ibuprofen seit Wochen nicht verfügbar ist, werden Patienten nach Operationen, Patienten mit Knochenbrüchen oder Tumorleiden nur mit Paracetamol behandelt! Vereinzelt wird Pethidin gebraucht, ein altes Opiat, das in der Schweiz schon lange nicht mehr zur Schmerzbehandlung eingesetzt wird.
Wenn man z.B. einem Patienten mit Verstopfung ein Abführmittel verschreibt, sieht man erst bei der nächsten Visite den Vermerk „O/S“ (out of stock) auf dem Medikationsblatt. Und der Patient wurde somit einfach nicht behandelt. Während man mit dem Schmerzmittelengpass noch einigermassen umgehen kann, wird es immer kritischer, wenn wie in der letzten Woche nicht einmal die Antimalariamittel und ein Teil der Tuberkulosemittel geliefert wurde. Und wenn keine Laborröhrchen geliefert werden, kann man auch kein Labor machen!  
Apotheke
Ein weiteres grosses Problem sind die fehlenden Ärzte, eigentlich sind fünf Ärzte im Spital angestellt und diese fünf werden auch bezahlt, obwohl nur einer wirklich hier arbeitet. Die anderen vier sind bisher nicht einmal aufgetaucht, sondern machen irgendwo ihre Facharztausbildung, finanziert durch den Lohn von der Anstellung im Mpansyha-Spital!



Stationszimmer
Hauptgesundheitsprobleme in Sambia sind einerseits Infektionskrankheiten wie Malaria, Durchfallerkrankungen (die v.a. bei Kinder wegen starkem Wasser- und Salzverlust tödlich sein können), HIV (15% der Bevölkerung sind infiziert) und Tuberkulose und den durch Viren ausgelösten Gebärmutterhalskrebs. Andererseits Mangelernährung mit folglich geschwächter Immunabwehr und durch Zunahme des westlichen Lebensstils im urbanen Raum zeigt sich ein rasanter Anstieg an Zuckerkrankheit, Adipositas, Herzinfarkten und Hirnschlägen.
Ein weiteres Problem ist die hohe perinatale Mutter- und Kindersterblichkeit, denn viele Frauen haben keinen Zugang zu Verhütungsmittel und gebären Zuhause, da die Spitäler oft zu weit weg sind und zu Fuss bei einsetzenden Wehen nicht mehr erreicht werden können (Fruchtbarkeitsziffer 5.5 Kinder pro Frau). Auch bei Verkehrs- oder Arbeitsunfällen sind die Distanzen zu den Spitälern oft zu gross und einen gut ausgerüsteten Rettungsdienst gibt es nicht.
Die Lebenserwartung lag 1990 noch bei 60 Jahren, sank bis 2004 auf 40 Jahre wegen einer hohen AIDS-Sterblichkeit und stieg aufgrund grossflächiger Verteilung von HIV-Medikamenten wieder auf knapp über 50 Jahre (2015). Fast 50% der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt.
Zwei Patienten mit HIV

Eric mit seiner Tochter, er leider an einem Kaposi-Sarkom bei therapieresistenter HIV.


Um die Schwierigkeiten der sambischen Gesundheitsversorgung besser darzustellen, folgen einige Beschreibungen von Patienten, die ich gesehen habe (Namen geändert).

Lucas (16 Jahre):
Lucas leidet unter einer Epilepsie und ist eigentlich unter einer Dauertherapie mit einem Antiepileptikum anfallsfrei. Doch weil in der Klinik sein Medikament „out of stock“ war, erlitt Lucas während dem Therapieunterbruch einen epileptischen Anfall und fiel dabei ins Feuer und verbrannte sich beide Füsse. Aufgrund schwerer Verbrennungen haben wir im Spital eine Hauttransplantation mit Spalthaut vom Oberschenkel durchgeführt. Lucas und seine Mutter sind seit 2 Monaten im Spital, weil eine intensive Wundpflege und sorgfältige Infektkontrolle nötig ist. Weder Lucas noch seine Mutter können in dieser Zeit arbeiten oder zur Schule gehen.
Der Verbandswechsel war immer eine grosse Herausforderung, denn Verbandsmaterial ist knapp und es fehlt ein gut eingerichteter Verbandsraum, jegliches Material musste man sich vorher zusammensuchen. Nicht einmal Scheren standen zur Verfügung! Weil die Wundreinigung immer so schmerzhaft war, musste sie jeweils unter Ketamin erfolgen (einem starken Beruhigungs- und Schmerzmittel), welches ohne jegliches Monitoring und ohne bereitliegende Notfallausrüstung intravenös verabreicht wurde. 
 
Vorbereiten der Wundflächen für die Hauttransplantation 

David (22 Jahre):
Er kam wegen eines chronischen Hustens und starker Gewichtsabnahme ins Spital. Bei ihm wurde Lungentuberkulose und eine bisher unbekannte HIV-Infektion diagnostiziert. Sein CD4-Count betrug 2 Zellen/mm3! (CD4-Count ist die Anzahl an bestimmten Immunzellen, welche durch das HI-Virus befallen werden und welche die ganze Immunabwehr koordinieren. Normal wären mehrere Hundert, behandelt werden in Sambia HIV-Patienten ab CD4-Count unter 500, unter 200 gilt als tiefer Wert).
David war in der medizinischen Abteilung der Männer untergebracht, einem Zimmer mit zehn Betten. Dort waren drei Männer mit Tuberkulose gemischt mit Nicht-Tuberkulose-Patienten untergebracht. In der Schweiz müssen Tuberkulosepatienten isoliert werden und das Personal darf nur mit speziellen Tuberkulosemasken den Raum betreten.
 
David während der Visite
Christopher (32 Jahre):
Ein neudiagnostizierter HIV-Patient kam an einem Freitagnachmittag ins Spital und mir rutschte ein unschönes „Scheisse“ raus, als ich seinen Nierenwert auf dem Laborblatt sah (Kreatinin 440 mcmol/l bei einem abgemagerten Mann mit Körpergewicht von 40kg). Elektrolyte, Harnstoff und pH-Wert des Blutes konnten im Labor ja nicht bestimmt werden und der Patient hätte sofort ins Unispital nach Lusaka verlegt werden müssen um ein Nierenversagen zu behandeln. Doch weil am Wochenende im Unispital normalerweise keine neuen Patienten behandelt werden und der Patient in einem sehr guten Allgemeinzustand war, wurde beschlossen, ihn erst am Montag zu verlegen. Am Samstagmorgen war er jedoch nicht mehr ansprechbar und hatte eine Atemfrequenz von 38 pro Minute (normal 12-20). In diesem Zustand war er nicht transportfähig und er verstarb am Sonntag.
Innerhalb 2 Wochen sind drei andere Männer (alle etwa 30 Jahre alt) mit HIV und Tuberkulose gestorben, zwei hatten ein sogenanntes Immune Reconstitution Inflammatory Syndrome (IRIS) nach Beginn der HIV-Therapie. (Erklärung: Wenn die Immunzellen CD4 zu tief sind, ist das Immunsystem so schwach, dass es auf Krankheitserreger gar nicht mehr reagieren kann. Steigen dann die CD4-Zellen unter HIV-Therapie wieder an, kommt es zu einer starken Entzündungsantwort als Reaktion auf vorhandene Krankheitserreger, was zu einem Organversagen führen kann. Deshalb muss vor Beginn einer HIV-Therapie der CD4-Count kontrolliert werden und bei tiefem Wert zuerst mögliche Infektionen behandelt werden.) Alle diese vier Patienten hatten Atemprobleme und hätten auf einer Intensivstation betreut werden müssen. Doch in Mpansyha gibt es keine Intensivstation und eine Verlegung nach Lusaka ins Unispital war nicht möglich, weil die Patienten alle sauerstoffpflichtig waren und es keine transportierbaren Sauerstoffbehälter im Spital gibt!  
 
Die sogenannte "Intensivstation" des Spitals, ein Zimmer mit Sauerstoffbombe in Nähe des Stationzimmers

George (1.5 Jahre):
Dieser Junge wurde wegen einer unkomplizierten Malaria im Spital behandelt, doch der Allgemeinzustand besserte sich trotz Fieberfreiheit nach Therapie nicht. Es zeigte sich eine zunehmende Blutarmut (innerhalb einer Woche sank der Hb-Wert von 6.9 auf 3.6 g/dl) und weil das Spital keine Blutreserven hatte, wollten wir das Kind nach Lusaka verlegen. Aber nicht einmal das Unispital hatte Blutkonserven! In Sambia ist die Versorgung mit Blutkonserven ein grosses Problem! Postoperativ oder nach Verkehrsunfällen versterben viele Leute, weil keine Blutkonserven vorhanden sind. Als zwei Tage später Blutkonserven in Lusaka vorhanden waren, wollte die Mutter nicht dorthin gehen. Einige fürchten sich davor nach Lusaka zu gehen, wenn sie z.B. noch nie dort gewesen sind oder haben kein Geld für die Rückkehr und  haben Angst dann in Lusaka festzusitzen. In Lusaka muss man normalerweise für Gesundheitsversorgung zahlen, was viele nicht können.
 
Kinderabteilung 
Austin (10 Jahre):
Bei diesem Jungen wurde im Juli dieses Jahres ein Knochenkrebs festgestellt. Die Familie kam aber erst im Oktober wieder ins Spital, weil sie zuerst einen afrikanischen Heiler aufsuchten. Die geplante Beinamputation konnte im Oktober aufgrund einer Blutarmut und einem Mangel an Blutplättchen (sind für die Gerinnung zuständig) nicht durchgeführt werden. Beim Warten ist  nun die Grösse des Tumors innerhalb der letzten zwei Monate aufs Dreifache angestiegen.
 
Austin
Austin mit Maggie, eine polnische Krankenschwester,
die seit 12 Jahren im Spital ein Hospiz mit Palliativmedizin leitet
Austins Zimmer, er and Maggie haben begonnen,
seine Wand mit Bilder zu dekorieren
Austin mit seiner Familie, sein grösster Wunsch wäre es, wieder gehen zu können
(Namenslos)
Dieses Neugeborene ist der zweite Zwilling einer Termingeburt, Geburtsgewicht 2.5kg, welches unter der Geburt eine Asphyxie erlitt und reanimiert werden musste. Die folgende Intensivüberwachung bestand aus einer wärmenden Decke (die Wärmelampe funktioniert nicht) und intravenöser Flüssigkeit. Beim Versuch eines Legens einer Magensonde zur Ernährung kam es wahrscheinlich zur Aspiration (Mageninhalt gelang in die Lunge, eine Absaugpumpe war nicht bereit) und das Neugeborene entwickelte starke Atemprobleme. Trotz schwerer, unregelmässiger Atmung lebte der Junge noch 2 Tage. Eine Verlegung nach Lusaka war aufgrund fehlender Transportmöglichkeit von Sauerstoff nicht möglich. Die Mutter hatte das Kind nicht einmal auf dem Arm. Totgeburten sind hier häufig, sodass den gebärenden Frauen gesagt wird, sie sollen nicht darüber weinen, sonst wird das nächste auch sterben. Die Mutter hat geweint.



Mutembo (57 Jahre):
Mutembo hatte vor über einem Jahr einen schweren Motorradunfall und in einer anderen Klinik wurde sein völlig zertrümmertes Knie einfach eingegipst in der Hoffnung, es würde irgendwie zusammenwachsen. Aufgrund der Deformitäten und der Schmerzen konnte Mutembo aber nach Gipsentfernung das Bein nicht mehr belasten und konnte nur noch an Krücken gehen. Der Schweizer Chirurg hat nun eine operative Gelenksversteifung durchgeführt, damit Mutembo wenigstens wieder mit steifem Knie ohne Krücken gehen kann. Mutembo hat monatelang auf diese Operation gewartet.
 
Das Röntgenbild

Die Operation

Gift (9 Monate):  
Gift kam vor 9 Monaten mit einem Hydrocephalus auf die Welt (Hydrocephalus: Erweiterung der Hirnwasserräume). Die Mutter wurde nach Lusaka geschickt, um einen Shunt (Ableitung für das gestaute Hirnwasser) zu legen. Aus finanziellen Gründen gingen sie aber nicht und kamen im erst November nach 9 Monaten wieder.
Der erhöhte Druck hat zu einem grotesken Schädelwachstum und zu einer erheblichen irreversiblen Hirnschädigung geführt.




Esther (12 Monate):
Esther wurde von der Mutter ins Spital gebracht, weil das Mädchen nicht aufhörte zu weinen und nicht mehr sitzen konnte. Es fiel sofort eine überstreckte Kopfhaltung des Kindes auf. Bei jeder Bewegung fing es an zu weinen. In der Anamnese fanden wir heraus, dass das Kind in einem Health Post mit Quinine gegen Malaria behandelt wurde. In der Untersuchung fiel auf, dass das Mädchen keine Gegenstände wahrzunehmen schien und auf einem Ohr nichts zu hören schien. Das Mädchen hatte eine schwere Hirnschädigung erlitten. Unklar wird die Ursache dafür bleiben, möglich sind cerebrale Malaria, Nebenwirkung der Malariabehandlung mit Quinine oder eine Hirnhautentzündung.
 
Ein anderes Kind, welches wegen starker Unterernährung an starken
Wassereinlagerung litt
Das sind einige Patienten, die ich in Mpansyha gesehen habe. Viele andere werden erfolgreich behandelt und das Spital geniesst einen sehr guten Ruf, v.a. wegen einem deutschen Gynäkologen und ehrenamtlich arbeitenden Schweizer Chirurgen. Für viele ist es eine Anlaufstelle, wenn ihnen in anderen Spitälern nicht geholfen wird und Patienten reisen dafür sogar aus Lusaka oder dem Norden des Landes an! Und doch bin ich schockiert, wie wenig ein Menschenleben hier zählt. Man hat keine Sicherheiten. Man darf einfach nicht krank werden, weil man nie weiss, ob man Hilfe bekommt. Wenn man zum falschen Zeitpunkt ins Spital kommt gibt es keinen Strom, kein Blut oder keinen Arzt.